Relativ spontan entschloss ich mich dazu, auf das großzügige Angebot von DD einzugehen und mit ihm sowie seinem Vater für eine Woche in die französischen Alpen zu reisen. Er wollte dort eine Rennserie (erfolgreich) bestreiten. Ich hingegen war angetan von der Idee, ein paar der berühmten Anstiege der Tour de France abzufahren und Spaß zu haben. Da DD am Samstag vor der Abreise noch das Turmbergrennen in dominanter Art und Weise inklusive Streckenrekord gewinnen musste, bestand hinsichtlich der Abfahrt eine zeitliche Restriktion. Nachdem die Siegerehrung abgeschlossen war, ging es gegen 21:00 Uhr am Samstagabend endlich auf die Reise in den Süden. Mir war die späte Abfahrt egal; ich wollte in den Alpen Urlaub machen, keine Rennen fahren. Für DD stand hingegen am nächsten Morgen um 7:15 Uhr der Start bei La Vaujany, einem Radmarathon mit etwa 4000 Höhenmetern auf 175 km und erstem Bestandteil der Rennserie „Trophée de l’Oisans“ auf dem Programm.
DDs Vater reiste als Begleitperson und Chauffeur mit. Dank seiner bewährt zügigen Fahrweise erreichten wir den Stausee, an dem das Rennen gestartet werden sollte, um halb drei in der Frühe. Sämtliche Versuche im Auto zu schlafen, waren nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönt gewesen. Als Quartier für die verbleibende Zeit bis zum Start wurde kurzerhand eine Haltebucht mit komfortabler Picknick-Tischgarnitur und Mülleimer auserkoren. Geschwind breitete ich Isomatte und Schlafsack auf dem Grünstreifen neben der Strae aus und kuschelte mich ins gemachte Bett. Wie auf Rosen gebettet, schlummerte ich ein paar Stündchen, bevor DD wieder aufstehen musste, um das Frühstück quasi ans Bett gebracht zu bekommen und an den Start zu gehen.
Um halb sechs begann es zu dämmern und mein doch eher spartanisches Lager erschien mir auf einmal nicht mehr so bequem. Also entschloss ich mich dazu, aufstehen, die Szenerie genießen und so langsam den Gedanken zu entwickeln, heute doch am Vaujany Granfondo am Start zu stehen. Denn den äußerst seltenen Umstand, dass ich grundlos so früh auf den Beinen war, konnte nicht einfach ungenutzt verstreichen lassen. DD nur zuzusehen und herumzulungern, war plötzlich doch keine Alternative mehr. Mit einer gewissen Vorahnung hatte ich am Tag zuvor noch meine Lizenz abgeholt, um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein. Auf dieser kurzen Besorgungsfahrt hatten sich meine Stelzen jedoch so mies angefühlt, dass ich nicht damit gerechnet hatte, so schnell auf die Idee zu kommen, mich kompetitiv zu betätigen. Da die Entscheidung nun jedoch gefallen war, vernaschte ich ein erstaunlich leckeres Frühstück am See, während sich die Sonne langsam über die Berge erhob. Anschließend zog ich mir schnell Radkleidung an, nahm das Rad vom Dach, kratzte einen Haufen toter Fliegen davon ab, packte Lizenz, Startgeld sowie Verpflegung in die Trikottaschen und begab mich gute 20 Minuten vor Rennbeginn mit DD in Richtung Start.
Dass ich etwas vergessen hatte, sollte ich erst später bemerken; noch war ich zu sehr mit meinem bald erwarteten Ableben beschäftigt. Ungefähr 10 Minuten vor dem Start und trotz fünf Euro zu wenig Startgeld bei mir gehabt zu haben, hatte ich dann tatsächlich eine Startnummer in der Hand – für den ersten Startblock. Als DD und ich dann fünf Minuten vor dem Start „race ready“ im Startblock standen bekam ich doch etwas Angst vor der eigenen Courage und den ungefähr sechs Stunden Radrennen, die mich erwarteten – sofern alles optimal laufen sollte. Nach der professionellen Vorbereitung und den positiven Eindrücken des Vortages standen die Chancen für ein deutlich ausgedehnteres Sufferfest jedoch deutlich besser.
Direkt nach dem Start ging es zunächst ungefähr zwanzig Kilometer leicht bergab. Dieses Stück mit ungefähr 1000 anderen Fahrern gleichzeitig unter die Räder nehmen zu dürfen, linderte meine Befürchtungen, dass ich den Tag nicht überleben würde, nicht gerade. Als sich dann in nächster Nähe ein Fahrer auf spektakuläre Art und Weise bei ungefähr 60 km/h buchstäblich kopfüber in die Abfahrt stürzte, allerdings ohne sein Rad, fühlte ich mich nicht mehr sehr wohl in meiner Haut. Heute wollte ich es jedoch mit den forschen Worten der Partei der deutschen Leistungsträger halten: Bedenken second!
Trotz der Tatsache, dass ich nicht sehr zuversichtlich gestartet war, blieb ich zumindest im vorderen Drittel des Feldes. Leider war das etwas zu weit hinten, um im ersten Anstieg in die Spitzengruppe fahren zu können. Zu viele Vollprofis mit sensationeller Radbeherrschung verhinderten mit ihren Schlangenlinien an der ersten Rampe ein zügiges Durchkommen. Nachdem ich die Zahlen meines Leistungsmessers ein paar Kilometer ignoriert hatte und die Spitze trotzdem nur in Sichtweite kam, besann ich mich eines Besseren und passte mein Tempo etwas mehr an mein Leistungsvermögen an. Die Lücke zur Spitzengruppe, in der DD locker pedalierend mitfuhr, wurde nun schnell größer. So viel Vernunft hatte ich vorher noch nie in einem Rennen walten lassen – dem Leistungsmesser sei Dank! So ein richtiger Leistungsträger hätte sich hier sicherlich nicht so leicht freiwillig den Bedenken geschlagen gegeben, aber im Angesicht des Todes machte ich mich lieber zum Sklaven der nackten Zahlen meines Leistungsmessers als den forschen Slogans einer größenwahnsinnigen Klientelpartei auf den Leim zu gehen.
So ging es nach den ersten ungefähr 1000 Höhenmetern des ersten Anstieges in die Abfahrt und in Richtung des Col d‘Ornon, einem zu anfangs klassischen Rollerberg. Ein paar andere Fahrer schlossen zu meiner Gruppe auf und waren sehr motiviert, das Tempo zu bestreiten. So hatte ich die Gelegenheit meine Beine, die sich nicht mehr taufrisch anfühlten, etwas hochzunehmen und mich zu verpflegen. Ungefähr zu dieser Zeit dachte ich, dass ich einen Platten hätte. Nach einer kurzen Rekapitulation meiner professionellen Präparation kam ich jedoch darauf, dass ich nicht daran gedacht hatte, vor dem Start meinen Reifendruck zu kontrollieren und es vermutlich daran lag.
Als ich mir weitere Verpflegung aus einer Trikottasche angelte, rutschte unglücklicherweise meine Lizenz ebenfalls heraus. Dadurch wurde mein Vorhaben, weiterhin möglichst kraftsparend im Windschatten mitzurollen, schnell beendet. Alle gesparten und ein paar weitere Reserven durfte ich direkt einsetzten, um die Gruppe wieder einzuholen, nachdem ich die Lizenz aufgesammelt und nun sicher verstaut hatte. In den steileren letzten Kilometern des Col d‘Ornon zerfiel die Gruppe zunächst infolge von Tempodifferenzen und auf der Passhöhe, als einige – so auch ich – an der Verpflegung Halt machten. Zu meinem großen Glück erblickte ich nach einem Moment der Orientierungslosigkeit DDs Vater, der mich mit Wasser und neuen Gels verwöhnte! Frisch verpflegt begab mich mit vier verbliebenen Mitstreitern in die Abfahrt nach Bourg d‘Oisans. Im folgenden Flachstück wollte ein besonders motivierter französischer Begleiter gerne kreiseln, flog aber leider immer aus der Gruppe, sobald ich im Wind fuhr, sodass die Gruppe nicht funktionierte. Da das Flachstück bald enden sollte, sorgte ich auch nicht mehr weiter für Tempo und konzentrierte mich ich mich darauf, weiter Kohlenhydrate nachzuführen.
Am Fuße des 14,3 km langen Anstieges in Richtung Villard Reculas machte ich bereits zum wiederholten Mal von der „Runden“-Taste meines Radcomputers Gebrauch, um den Überblick zu behalten und mir das Pacing zu erleichtern. Das klappte zufriedenstellend und ich fand einen gleichmäßigen Rhythmus, den ich beibehalten konnte, als die Anstiege nach Alpe d’Huez und letztendlich auf den Col de Sarenne ohne nennenswerten Zwischenabfahrten folgten. Schön war auch, nur zu überholen und selbst nicht überholt zu werden. Die anfängliche Zurückhaltung schien sich langsam auszuzahlen und so erreichte ich, nicht ohne die gewaltigen Gebirgszüge links und rechts von mir zu bestaunen, alleine den Gipfel des Sarenne. Vor der nun folgenden Abfahrt war bereits am Start eindringlich gewarnt worden – und in diesem Fall vollkommen zurecht. Die Straße war einspurig, der Belag äußerst wellig sowie von Schlaglöchern durchsetzt und an jenen Stellen, die ausgebessert worden waren, lag tiefer Rollsplitt. Plötzlich war ich nicht mehr so traurig darüber, etwas weniger Luft in den Reifen zu haben. Da im Anschluss an die Abfahrt ein längeres Flachstück folgen sollte, das ich nicht unbedingt alleine gegen den Wind bestreiten wollte, ging ich auf der Abfahrt keinerlei Risiko ein, verpflegte mich und wartete darauf, dass Fahrer von hinten zu mir aufschließen würden.
Als im ersten Gegenanstieg nach mehr als zehn Kilometern immer noch niemand hinter mir in Sicht war, dämmerte mir, dass ich wohl nicht darum herumkommen würde, die nächsten Kilometer alleine zurückzulegen. Also suchte ich mir einen guten Rhythmus und begann, die Kilometer zu zählen. DDs Vater wartete noch einmal mit Verpflegung am Straßenrand, für die ich ungemein dankbar war. Am Schild, das die verbleibenden 20 Kilometer ankündigte, betätigte ich ein letztes Mal die „Runden“-Taste und hatte mental endlich das Ziel in Reichweite. So war der Gegenwind im Tal einigermaßen zu ertragen. Ich fuhr auf einige Gruppen auf, bei denen es sich allerdings um Fahrer handelte, die die Anstiege nach Villard Reculas, Alpe d‘Huez und zum Col de Sarenne noch vor sich hatten; denn dieser Teil der Strecke musste zwei Mal absolviert werden. Sofern ich noch zu Emotionen außer Selbstmitleid in der Lage war, galt er diesen Fahrern, die für die erste, leichtere Hälfte der Route schon länger als fünfeinhalb Stunden benötigt hatten. Ich war heilfroh, dass ich die Straße hinauf nach Villard-Reculas nach kurzer Zeit wieder verlassen durfte, um die letzten zehn Kilometer in Angriff zu nehmen.
Währenddessen fuhr ich noch einen besonders unglücklichen Teilnehmer auf, der erst seine Trinkflaschen verloren und dann kurz fehlgeleitet worden war. So war er nun mit einer Plastikflasche, die er vermutlich an einer der Verpflegungsstationen ergattert und in den Flaschenhalter gerammt hatte, unterwegs. Das passte so ganz und gar nicht zu seiner ansonsten komplett professionellen Erscheinung. Doch so konnte ich bis zum Schlussanstieg zumindest die ein oder andere Ablösung und etwas Windschatten ergattern.
Als wir in den Schlussanstieg nach Vaujany einbogen, erhöhte ich dann das Tempo und er konnte nicht folgen. Ich hatte mich jedoch ebenfalls überschätzt oder den Schlussanstieg unterschätzt. Auf jeden Fall wurden aus erhofften fünf Kilometern mit guter Pace, eineinhalb Kilometer anständiges Radfahren und dreieinhalb Kilometer pures Leiden. Der Anstieg lag komplett in der Sonne, war unrythmisch zu fahren und wartete mit zweistelligen Steigungsprozenten auf. Das war in der Summe zu viel für mich und ich kroch wie eine Schnecke die Straße entlang. Jeder Kilometer zog sich endlos in die Länge und mein einziger Trost war, dass ich noch keine Schlangenlinien fahren musste, wie es einige Teilnehmer taten, die ich trotz allem noch überholte. Von hinten kam glücklicherweise auch niemand. Dass ich nicht der Einzige war, der hier richtig leiden musste, wurde mir noch einmal vor Augen geführt, als ich auf den letzten 800 m einen weiteren Fahrer überholte, der sich an einem Brunnen seines Helms und seiner Schuhe entledigt hatte, um beides im Wasser zu versenken und sich ebenfalls im Strahl des Brunnens erfrischte. Für einen kurzen Moment konnte ich noch einmal beschleunigen, mit der Aussicht hier auf so unerwartet einfache Art und Weise noch einen Platz gutgemacht zu haben. Aber ich bereute es nur wenige Sekunden später umso bitterer, als ich angesichts Steigung auf den letzten 400 m durch die Innenstadt von Vaujany beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Vaujany hat nicht umsonst ein kurioses System verschiedener Aufzüge und Rolltreppen im Betrieb, um den Ort besser zugänglich zu machen.
Letztendlich kämpfte ich mich doch irgendwie über die Ziellinie und konnte sogar noch selbstständig vom Rad absteigen. Viel hat jedoch nicht gefehlt und ich wäre einfach zur Seite umgekippt. Mein Ziel unter sechs Stunden zu bleiben, hatte ich im Schlussanstieg endgültig begraben müssen. So erreichte ich nach 6:08:11 Stunden als insgesamt 20. das Ziel. DD war zu diesem Zeitpunkt schon 18 Minuten im Ziel und hatte sich den sensationellen fünften Gesamtrang erkämpft. Angesichts der Vorbereitung sowie des miesen Gefühls in den vorangegangenen Tagen war ich mit meinem Abschneiden sowie meiner Leistung allerdings überaus zufrieden und hatte den Eindruck, mit dem spontanen Start die beste Entscheidung seit langem getroffen zu haben und um eine geniale Erfahrung reicher geworden zu sein.
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