Aufgrund des unglücklichen Verlaufes meiner letzten Teilnahme sah ich mich dazu genötigt, auch in diesem Jahr wieder in Luxeuil les Bains an den Start zu gehen und mich mit 2000 anderen hoffnungsvollen Talenten des Radsports um eine gute Position im Startblock zu streiten.
Die Ruhe vor dem Sturm
Wieder einmal übernahm BW den Großteil meiner Reiseplanung. Meine Aufgaben beschränkten sich darauf, mit meinem Fahrrad samt passendem Sattel – eine schier unlösbare Herausforderung – sowie der restlichen Ausrüstung zur Mittagszeit bei ihm aufzuschlagen, eine qualitativ und quantitativ ausgezeichnete Portion Pasta all’arrabbiata zu vernichten und mich anschließend zum Hotel chauffieren zu lassen. Die sonnige Hinfahrt versüßten wir uns damit, die Wettervorhersage für Orte entlang der Strecke herauszusuchen und sie hinsichtlich der Regenwahrscheinlichkeit zu ordnen. Wir brachen in regelrechte Jubelstürme aus, als wir herausfanden, dass uns der Grand Ballon mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine kühle Dusche bescheren würde. Aber auch der restliche Teil der Strecke trug mit einer durchschnittlichen Regenwahrscheinlichkeit von mehr als 90 % zu unserer Vorfreude bei.
Das Hotel lag diesmal inmitten der beschaulichen Altstadt Vesouls und bot zwar kein Frühstück, überzeugte allerdings mit der Aussicht, eine ruhige Nacht in einem gemütlichen Bett zu verbringen. Um die Glykogenspeicher vollends aufzufüllen, begaben wir uns zum Abendessen in eine nahegelegene Pizzeria. Unter Aufbietung all meiner verkümmerten Französischkenntnisse gab ich dem Kellner zu verstehen, dass ich gerne eine Pizza ohne Merguez und Käse zu verspeisen wünschte. Nachdem der Kellner bis dato mit gelangweilter Gleichgültigkeit bei gleichzeitiger vollkommener Überforderung geglänzt hatte und der als Vorspeise kredenzte Tomatensalat einem schlechten und vollkommen überteuerten Scherz gleichkam, war ich vollkommen perplex, als meine Pizza scheinbar tatsächlich frei von Tierprodukten vor mir lag.
Auf dem Heimweg zum Hotel versicherten wir uns gegenseitig, dass der Wetterbericht für den nächsten Tag zwangsläufig falsch sein musste und wir sämtliche Regenkleidung umsonst eingepackt hatten. Der Blick aus dem Fenster am nächsten Morgen strafte uns leider Lügen. So durften wir uns während des Frühstücks, das wir spätrömisch dekadent im Bett liegend verschlangen, ordentlich selbst bemitleiden und uns letztendlich damit abfinden, doch die Regenkleidung anziehen zu müssen.
Full Gas Aero Peaks
Obgleich mein Start quasi seit Erreichen des Ziels im Vorjahr ausgemachte Sache gewesen war, hatte ich mich selbstverständlich erst wenige Tage vor dem Start gemeldet. Dies dürfte wohl auch die Ursache dafür gewesen sein, dass ich mich trotz meiner vergleichsweise anständigen Platzierung im Vorjahr nicht im Startblock der bevorzugten 400 einreihen durfte. Als echte Trantüte hatte ich es an der Startnummernausgabe natürlich versäumt, darum zu betteln, doch irgendwie vorne starten zu dürfen. Dementsprechend blieb mir nichts anderes übrig, als mich zwischen Leuten einzureihen, für die es „nur“ darum ging, das Ziel zu erreichen. Aber gerade deshalb mussten diese ihre Startposition anscheinend besonders früh einnehmen und vehement verteidigen.
Somit startete ich leider wieder mit einem Zeitdefizit auf das Feld derjenigen, die verhältnismäßig tiermäßig unterwegs sein sollten. In der Startphase galt es daher einerseits ordentlich Positionen gutzumachen und andererseits nicht über vollkommen überforderte Radtouristen zu stürzen, die mit dem feuchten Asphalt in den Kreisverkehren ihre liebe Mühe an den Tag legten. Jegliche im Voraus gehegten Wünsche, die Beine bis zum ersten richtigen Berg schonen zu können, musste ich an den ersten Wellen bereits begraben, damit ich die Spitze des Feldes zumindest in der Ferne erahnen konnte, bis der erste Berg anstand. Als ich BW und JP auffuhr, war ich deshalb schon gut im Laktat. Meine Beine fühlten sich nicht gut an und kurz schoss mir durch den Kopf, es locker angehen zu lassen. Die aufmunternden Worte BWs, es doch ordentlich jucken zu lassen, motivierten mich jedoch, erneut Vollgas zu geben.
Als es in den ersten steilen Anstieg ging, befand ich mich schließlich unter den ersten 40 Fahrern. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings keine Ahnung, ob nicht noch eine Spitzengruppe vor dem großen Feld lag. Ich versuchte einfach weiterhin Plätze gutzumachen und freute mich an jedem Schild, dass für den nächsten Kilometer Steigungsprozente größer als zehn ankündigte, über meine lässige 36/28-Übersetzung.
Den ersten Gipfel passierte ich schließlich in der ersten Gruppe des großen Feldes. Trotz einer zurückhaltenden Fahrweise konnte ich während der folgenden Abfahrt alle Mitstreiter bis auf einen leicht distanzieren. Ich hatte immer noch die Hoffnung, in der Ferne einen Blick auf die Spitzengruppe, von deren Existenz ich überzeugt war, erhaschen zu können und mir im Auffahren selbiger ein Zwischenziel stecken zu können. Erst später im Rennen dämmerte mir, dass es genau ein Führungsfahrzeug gab, dieses vor mir und meinem Begleiter fuhr, und wir in diesem Moment folglich in Führung lagen. Da ich aus diesem Grund keine Gruppe in Front ausmachen konnte und mein Begleiter wohl darüber im Bilde war, dass es dort keine Gruppe gab, hielt sich unser Elan in Grenzen, sodass wir kurze Zeit später wieder von ungefähr zwanzig Fahrern eingeholt wurden.
Meine Beine fühlten sich zu Beginn des nächsten langen Anstieges schon ziemlich lädiert an und das Tempo der Gruppe war nun auch nicht gerade erholsam. Mir fiel auf, dass beinahe alle Fahrer der Gruppe von Autos am Rand verpflegt wurden. Währenddessen war ich dazu gezwungen, mich schon mit der Einteilung der Vorräte in meinen Trikottaschen zu beschäftigen, denn schmolzen rapide dahin.
Um meine bereits angegriffenen Kraftreserven zu schonen, fuhr ich bergauf von nun an ein gleichmäßiges Tempo, konnte die Gruppe jedoch gut halten. Nur meine Blase machte sich lästigerweise so langsam bemerkbar. Obwohl ich auf den Abfahrten zu den Schnelleren gehörte, war mir klar, dass ich keine Pinkelpause hätte aufholen können. So kam ich dazu, mich einige Zeit ernsthaft mit der richtigen Technik des Urinierens im Sattel auseinanderzusetzen – ohne es jedoch wirklich auszuprobieren. Noch war die Not nicht groß genug. Kurz darauf erlebte ich eine der sehr raren Gelegenheiten, in denen ich mich über einen Bahnübergang mit geschlossenen Schranken freute. Ein Großteil der Spitzengruppe tat es mir gleich und nutzte diese willkommene Gelegenheit, sich zu erleichtern.
Mittlerweile lag beinahe die Hälfte der Distanz hinter mir. Im Laufe des Anstieges zum Col du Hundsruck stellte ich fest, dass ich wohl zu schnell gestartet war und nun wirklich kämpfen musste, um die Gruppe zu halten.
Mein Plan, mir die Gels mit Koffein und Guarana für das letzte Renndrittel vorzubehalten, war hinfällig, als ich mich am Fuße des längsten Anstieges, hinauf zum Grand Ballon, schon aus dieser eisernen Reserve bedienen musste, um überhaupt den Gipfel zu erreichen. Der sonst so ausgiebig genossene Koffein-Kick blieb leider aus. Schon auf den ersten Kilometern des Anstieges fuhr ich ausschließlich am Gruppenende. Infolge der ersten Tempoverschärfung verlor ich letztlich den Anschluss. Ich fuhr zwei weitere abgehängte Fahrer auf und fand zwar meinen Rhythmus, fühlte mich jedoch ziemlich erbärmlich und wünschte mir die nächste Verpflegungsstation sehnlichst herbei.
Diese wartete leider nicht direkt am Gipfel sondern erst einige Kilometer später. Zuvor mussten noch fünf Kilometer zurückgelegt werden, die sich schier endlos in die Länge zogen. Als die Verpflegungsstation endlich erreicht war, füllte ich meine Flaschen, Taschen und Backen möglichst schnell mit flüssigen, gelartigen und festen Formen verschiedenster hochkonzentrierter Zucker wieder auf. Ich war vermutlich der erste Fahrer, der die Verpflegungsstation tatsächlich ansteuerte, denn die Helfer waren damit beschäftigt, sich in ihrem Pavillon, vor dem Wetter geschützt, zu unterhalten. Zumindest erfuhr ich von ihnen, dass ich ungefähr fünf Minuten Rückstand auf die Spitze des Feldes hatte.
Drei andere Fahrer, mit denen ich bis zur Verpflegungsstation unterwegs gewesen war, hatten keine Pause eingelegt und waren mittlerweile außer Sicht. Um nicht alleine ins Ziel fahren zu müssen, blieb mir also nicht anderes übrig, als auf die nächste Gruppe zu warten – oder auf der Abfahrt die verlorene Zeit wieder gutzumachen. Ich entschied mich für Letzteres. Zwei Mitglieder der früheren Spitzengruppe sah ich dabei schneller wieder, als mir lieb war. Beide waren schwer gestürzt und hatten sich augenscheinlich schwere Verletzungen zugezogen, wurden aber bereits von Helfern versorgt. Ohne die Situation wirklich zu erfassen, passierte ich die Unfallstelle. Meine Konzentration galt weiterhin dem nassen Asphalt und mein Augenmerk lag auf einer zügigen Abfahrt. Diese gelang wohl relativ gut, sodass sich meine einteilten Mitstreiter kurz vor der letzten Spitzkehre wieder in Sichtweite befanden. Mit einer kurzen Kraftanstrengung schloss ich die verbliebene Lücke auf dem folgenden Flachstück.
Der Blick auf meinen Radcomputer verriet mir, dass ich nun mehr als zwei Drittel der Strecke und ungefähr drei Viertel der Höhenmeter hinter mir hatte. Irgendwie musste ich nun noch die restlichen 80 Kilometer überleben, denn gefühlt hatte ich schon 90 % meiner Körner verschossen. Am nächsten Anstieg verblieb nur noch ein Begleiter an meinder Seite. Obwohl sich mein Französisch mittlerweile auf dem Niveau eines Säuglings bewegte, verständigte ich mich mit ihm darauf, von nun an gemeinsam zu fahren. Die Arbeitsteilung gelang uns auf den Flachstücken erstaunlich gut und am Berg fanden wir ebenfalls einen gemeinsamen Rhythmus. Wie um uns zu ermutigen, brach für kurze Zeit die Sonne durch die Wolken. Dieser idyllische Moment währte aber wirklich nur Minuten. Der Himmel verdunkelte sich wieder und es folgte die nächste kalte Dusche. Die Regenüberschuhe, die ich von BW geschnorrt hatte, als ich vor der Abfahrt noch in seiner Klamottenkiste gewühlt hatte, bewährten sich an dieser Stelle mindestens zum neunten Mal an diesem Tag.
In der letzten Rennstunde warteten noch einige wirklich ekelhafte Rampen. Hier verdunkelte sich der Himmel in Windeseile und ich genoss einen wunderschönen Blick auf die Sterne. Ich fragte mich, wie ich meine Übersetzung von 36/28 zu Beginn des Rennens noch als angenehm hatte empfinden können. Mittlerweile ließen mich meine Beine derart im Stich, dass ich fürchtete, absteigen zu müssen. Mein Gesichtsausdruck war schon abgrundtief peinlich, sodass ich mir diese zusätzliche Blöße tunlichst ersparen wollte. Mit allerletzter Kraft quälte ich mich über die steilen Rampen, die einfach kein Ende nehmen wollten. Auf jedes kurze Flachstück folgte erneut eine verflucht steile Passage, während der ich weiter Boden auf meinen Begleiter verlor. Ich verfluchte meine Übersetzung, das verhältnismäßig schwere Rad und jeden dämlichen Tümpel am Wegesrand, der mir in den Tunnelblick kam.
Trotz meiner Krise war mein Begleiter noch in Sicht, als es wieder länger flacher wurde. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob er auf mich wartete oder ebenfalls am Ende seiner Kräfte war. Jedenfalls stellte ich den Anschluss wieder her und wir gingen erneut dazu über, uns die Führungsarbeit zu teilen. Das wellige Terrain entlang der „tausend Teiche“ zog sich schier unendlich in die Länge. Glücklicherweise bot sich in Form eines Fahrers in der Ferne ein motivierendes Zwischenziel. Kurz vor der letzten Abfahrt stellten wir ihn letztendlich und nahmen diese zu dritt in Angriff. Ein neuerlicher Regenschauer hielt dabei die Spannung aufrecht. So langsam hatte ich die Schnauze wirklich voll.
Während ich nach der Abfahrt auf meine Mitstreiter wartete, schöpfte ich aus meiner Aggression neue Kraft, um es auf den Schlusskilometern ein letztes Mal jucken zu lassen und den Schnitt aufzupolieren. Die Straßen trockneten wieder ab und ohne, dass mich noch ein Defekt ereilt hätte, flogen meine Begleiter und ich der Ziellinie entgegen. Letztendlich fuhr ich als 12. mit einer Zeit von 6 h 54 min über den Zielstrich. Als ob das nicht schon Genugtuung genug gewesen wäre, war ich noch schnellster deutscher Fahrer. Überglücklich hielt ich Kurs auf die Becher mit dem „Recovery-Drink“ und schüttete mir direkt fünf davon in den Rachen. Kurze Zeit später erreichten auch JP und BW mit tollen Zeiten des Ziel. Auf dem Weg zum Auto gingen BW und ich noch einmal buchstäblich im Freudentaumel unter, als uns der Himmel mit einer letzten kräftigen Dusche verabschiedete.
Im Nachhinein hätte das Rennen für mich nicht besser laufen können. Dank der kühlen Witterung musste ich erst an der dritten Verpflegungsstation anhalten, um meine Flaschen wieder aufzufüllen. So entstand mir kein großer Nachteil daraus, dass ich mich selbst versorgen musste. Auch die nassen Abfahrten kamen mir gelegen, denn dort konnte ich stets etwas Zeit herausfahren. Zusätzlich hatte ich auf den letzten 80 km einen praktisch gleich starken Begleiter, mit dem ich gut harmonierte. Von den Sitzproblemen, die mich in der Vorwoche geplagt hatten, hatte ich ebenfalls nichts mehr gespürt. Die kurzfristig erworbene Sitzcreme hatte ich sich wirklich bezahlt gemacht. Letztendlich war es für mich jedoch nur möglich gewesen, mich vollkommen auf das Rennen zu konzentrieren, aufgrund der tollen Organisation von OT und BW, für die ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bedanken möchte.
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