Gestern wurden mir endlich die metallenen Andenken an meinen bisher unglücklichsten Fahrradsturz aus dem Arm entfernt. Wie nach der letzten Operation darf ich nun erneut eine Drainage und einen dicken Verband um den Arm mein Eigen nennen. Wenn ich das blutige Gefäß, das an meinem Arm baumelt, länger in Augenschein nehme, stellt sich reproduzierbar Brechreiz ein und ich erschaudere beim Gedanken an den Moment, an dem die Drainage gezogen wird. So darf ich die heißesten Tage des bisherigen Sommers damit verbringen, im eigenen Saft zu garen und habe viel Zeit die Geschehnisse, die der gestrigen Operation vorausgingen, Revue passieren zu lassen.
Alles begann lächerliche vier Kilometer vor der Heimkehr von einer lockeren Trainingsrunde im April 2014. Es war ein angenehmer Frühlingsabend, der die Jahreszeit der kurzen Trikots und Hosen unmissverständlich in die nahe Zukunft rückte. Mein Wintertraining war gut gewesen und ich verschwendete erste Gedanken an die Planung meiner Rennsaison. Das Ende meines Studiums war ebenfalls in greifbarer Nähe und ich befand mich in der Vorbereitung der verbliebenen mündlichen Prüfungen. Am selben Abend war ich noch zu einem lange geplanten und mehrmals verschobenen Abendessen bei Freunden eingeladen, auf das ich mich ebenfalls freute. Mein Leben verlief zu diesem Zeitpunkt alles in allem ziemlich reibungslos. Wie schnell mich reibungskontrollierte Prozesse auf den steinigen Boden der Realität zurückholen sollten, war mir in diesem Moment nicht bewusst. Charakteristischerweise war ich länger unterwegs gewesen, als ich im Voraus geplant hatte. Ich würde mich etwas beeilen müssen, um noch einigermaßen pünktlich zum Essen zu kommen. Um daheim keine unnötige Zeit damit zu verschwenden, noch etwas trinken zu müssen, griff ich zur Trinkflasche, die ich bis dahin kaum angerührt hatte. So nahm das Ungemach seinen Lauf.
Eine Hand am Lenker, in der anderen die Trinkflasche, rolle ich lässig dahin. Zu meiner Rechten rollt ebenso unaufhaltsam ein Zug vorbei. Beim Anblick des Zuges hänge ich fasziniert Gedanken über die Grundlagen der Schienenfahrzeugtechnik nach. Als ich den Blick wieder auf den Asphalt richte, nehme ich gerade noch wahr, wie ich mit dem Vorderrad einen Ast überrolle. Sekundenbruchteile später rolle ich selbst über den Asphalt, die Hand mit der Trinkflasche stets obenauf. Ich krümme mich vor Schmerz und bin erbost über meine eigene Unachtsamkeit, die so schnell in einem absolut unnötigen Sturz endete.
Ein paar Sekunden später habe ich mich einigermaßen aufgerafft und beginne meinen Körper, meine Kleidung und natürlich mein Rad zu untersuchen. Die frisch angelegten Löcher in meinen alten Klamotten lassen sich bestimmt als modischen Kunstgriff verkaufen. Die unschönen Löcher in meiner Haut, die noch nicht so alt ist, schmerzen schon eher. Der beschädigte Sattelbezug und das Lenkerband sind weitere Ärgernisse. Zunächst krümme ich mich aufgrund der Schmerzen jedoch wie ein Besoffener über mein Rad. Ein vorbeikommender Radfahrer beachtet mich nicht weiter. Ich kann es ihm kaum übel nehmen. Vermutlich geht er davon aus, dass ich gerade ins Gebüsch gereihert habe. Mit Idioten, die besoffen Rennrad fahren und aus einigen Löchern bluten, hätte ich auch wenig Mitleid. Ich reiße mich zusammen, versichere mir kurz, dass alles halb so wild ist und mache mich auf den Heimweg. Während selbigem stelle ich fest, dass ich den Lenker mit der linken Hand nicht mehr richtig greifen kann und mir der Wiegetritt doch etwas schwerer fällt als sonst. Zuhause angekommen, befreie ich mich eilig von den Klamotten und eile in die Dusche, denn ich möchte trotz allem die Einladung zu einem leckeren Abendessen wahrnehmen. Unter der Dusche sehe ich, dass an meinem linken Ellenbogen eine seltsame Beule absteht, die sich mit dem Finger bewegen lässt und einen soliden Kern aufweist. Mein beschränktes Hirn wird vollständig durch die reine Beobachtung der Realität in Anspruch genommen, sodass keinerlei Reflektion über die wahrgenommenen Tatsachen möglich ist. Das Loch in meiner Hüfte sieht ebenfalls nicht sehr appetitlich aus und gibt an der tiefsten Stelle den Blick auf ein weißes Gewebe frei, das ich bisher noch nicht am lebenden Tier beobachten konnte. Um meine Neugier zu befriedigen, lege ich buchstäblich den Finger in die Wunde und stelle fest, dass es sich um ein festes Gewebe und nicht um eine Flüssigkeit wie Eiter handelt. Währenddessen bin ich erstaunt darüber, dass mich kein Brechreiz überkommt, wo ich sonst nur sehr ungerne Blut und Verletzungen sehe.
Immerhin reicht mein Urteilsvermögen noch so weit, festzustellen, dass ich Hüfte und Arm in irgendeiner Weise verbinden sollte, bevor ich mich anziehe. Die Hausapotheke der WG erweist sich leider als nicht sehr ergiebig. Die Wunde am Ellenbogen bleibt deshalb zunächst unversorgt. Heilen Wunden an der Luft nicht sowieso am besten? Das Loch in der Hüfte verlangt jedoch nach einer saugfähigen Lösung und außerdem wird hier später auch die Jeans scheuern. Weil die Wunde hübsch groß und tief ist, muss etwas improvisiert werden. Ich schneide von zwei verbliebenen großen Heftpflastern die klebenden Ränder auf der vollen Länge ab, damit ich sie anschließend über der Wunde kreuzen kann, ohne dass die Klebeflächen in die Wunde kommen. Anschließend nutze ich die entfernten Kleberänder, um meine Konstruktion zu fixieren. Mit Unterhose und Hose darüber müsste das schon gehen, urteile ich. Die Übelkeit, die mich überkommt, während ich mich mit dem Rad auf dem Weg zu meinem Abendessen mache, lässt mich das erste Mal ernsthaft an der optimistischen Selbstdiagnose zweifeln, dass kein Bruch vorhanden ist. Nichtsdestotrotz möchte ich das Essen so kurzfristig unmöglich absagen und verspüre doch etwas Appetit.
Das wirklich gute Essen konnte ich leider nur mit einer Hand in den Mund befördern und mit fortschreitender Zeit wurde mir auch zusehends kalt, obwohl ich eigentlich viel zu warm angezogen war. Ich verabschiedete mich bald nachdem der letzte Teller geleert war und entschied, dass ich noch das nahegelegene Städtische Klinikum aufsuchen würde. Ich war ja glücklicherweise mit dem Rad da, sodass der Weg sicherlich kein Problem darstellen sollte. Als ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche holen wollte, musste ich mit Erschrecken feststellen, dass meine Verbandskünste nicht ausgereicht hatten, um zu verhindern, dass Unterhose und Jeans vollkommen von Blut durchweicht worden waren.
Den Plan, in die Notaufnahme zu radeln, musste ich schnell verwerfen. Der Versuch mein rechtes Bein über den Sattel zu schwingen, endete damit, dass ich vor Schmerz ächzte, noch bevor mein Fuß den Boden richtig verlassen hatte. Infolgedessen erreichte ich die Notaufnahme wenig später etwas ungelenk humpelnd, mein Rad vor mir herschiebend.
Nach Erledigung der Formalitäten versuchte ein viel zu verständnisvoller Arzt mein langärmliges T-Shirt über den kaputten Arm zu streifen. Unter der Kleidung war mir verborgen geblieben, dass ich linksseitig aussah wie Popeye und einen Unterarm in Melonenform mit mir herumtrug. Mein Shirt fiel deshalb der Schere zum Opfer. Die Wartezeit vor dem Röntgen bot nun Gelegenheit, mich ob meiner Dummheit selbst zu bemitleiden. Mittlerweile war ich mir wohl im Klaren darüber, dass mein linker Arm erheblich gelitten hatte und hoffte nur, dass mir eine Operation erspart bleiben würde.
Die Krankenschwester, die kurz darauf meine Hüfte in Augenschein nahm, konnte sich ein mitleidiges Schmunzeln aufgrund meiner Verbandskünste nicht verkneifen. Ein paar Haut- sowie Fleischreste wurden nach der lapidaren Anmerkung, dass diese definitiv nichts mehr würden und tot seien, professionell entfernt. Glücklicherweise war ich über den Punkt hinaus, wo ich solche geringfügigen Schmerzen, wie sie ein Schnitt mit einem Skalpell verursacht, noch wahrgenommen hätte. Die Wunde war in den letzten Stunden jedoch nicht gerade ansehnlicher geworden. Die Röntgenbilder ergaben, dass ich eine „mäßig dislozierte Olekranonfraktur, die auf jeden Fall operiert werden“ musste, erlitten hatte. Ganz langsam dämmerte mir, dass ich mit den Folgen dieses bescheuerten Sturzes noch eine gute Weile Spaß haben würde. Ich bekam gleich noch eine schöne Schiene an den Arm, um zu verhindern, dass der Bruchspalt infolge möglicher Bewegungen des Arms noch weiter aufgehen würde.
Buchstäblich und im übertragenen Sinne am Boden zerstört trat ich die Heimreise an. Gegen halb zwei langte ich schließlich daheim an. Der Versuch, mir mit der rechten Hand die Zähne zu putzen, schlug vollkommen fehl. Mich auszuziehen dauerte ebenfalls eine Ewigkeit und wurde von unschönen Flüchen begleitet. Leider fand ich in meinem schmalen Bett einfach keine Position, in der Mein Arm und meine Hüfte nicht höllisch wehtaten, sodass an Schlaf kaum zu denken war. Zudem hatte ich am nächsten Morgen bereits den nächsten Termin im Krankenhaus, um das Datum für die Operation zu vereinbaren. Dergestalt endete der wohl ungeilste Tag meiner jüngeren Vergangenheit.